Kritische Analyse des UdV-Forschungsberichtes 21 zu Abbiegeunfällen

INHALT:
Einleitung
Probenumfang – Statistik der Statistik
   Tabelle
   Bewertung
   Tabellenlayout in UdV 21
   Erklärungen zur eigenen Tabelle
Mögliche unberücksichtigte Unterschiede zwischen den Clustern
Berücksichtigung der potenziellen Unfallorte
   Anzahl
   Bedarf und Möglichkeit einer näheren Untersuchung
Einfaches Zahlenbeispiel zur Erläuterung des methodischen Fehlers
Zur Terminologie
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EINLEITUNG

Der
Forschungsbericht Nr. 21 der Unfallforschung der Versicherer über Unfälle abbiegender PKW und LKW mit Radfahrern
enthält einige wertvolle Rohdaten,
aber die errechneten Unfallraten sind leider nichts wert, denn die Arbeit hat einen methodischen Fehler: 
Die Unfallraten, d.h. Unfälle pro Fahrradaufkommen, pro Autoaufkommen und pro Wurzel aus (Autoaufkommen X Fahrradaufkommen)
wurden von Clustern (aus gleichartig gestalteten Knotenpunktarmen) bestimmt, die nur aus tatsächlichen Unfallstellen bestanden, 
ohne die oft wesentlich zahlreicheren gleichartig gestalteten Knotenpunktarme ohne derartigen Unfall.

Als indirektes Eingeständnis dieses methodischen Fehlers kann man die folgende Textpassage nehmen:
S. 76/77 "Linksabbiegeunfällen sind KPA ohne LSA mit Radverkehrsführung im Mischverkehr
… Unfälle an KPA dieser Führungsform stellen demnach ein eher seltenes Ereignis dar.
Im Gegensatz dazu weist dieses Cluster für Linksab- biegeunfälle jedoch
das mit Abstand höchste Unfallrisiko für Radfahrer und linksabbiegende Kfz (höchste Unfall- rate)
und höchste Unfallkostenraten auf."

(Wenn für ein trotz häufiger Ausgangsbedingungen seltenes Ereignis ein hohes Eintrittsrisiko errechnet wird,
ist das kein Wunder, sondern die Rechnung ist falsch.)

PROBENUMFANG – STATISTIK DER STATISTIK

Die folgende Tabelle beruht auf den zusammenfassenden Tabellen Nr. 12 und Nr. 13 des UdV-Forschungsberichtes
und auf den Abbildungen (Diagrammen) Nr. 33 und Nr. 34 zur Flächennutzung der beteiligten Radfahrer.
Zur deutlicheren Gegenüberstellung von Separation und Mischverkehr
wurden die im UvD-Bericht unterschiedenen (vier) Arten separater Radverkehrsführung
hier in der Statistik der Statistik zusammengerechnet.
 
RechtsabbiegerAnzahl der Unfällepotenzielle UnfallorteKPA in der Berechnung der Unfallraten
mit LSAMischverkehr12 + 15 (Gehweg)*609 KPA16
RVA163738 KPA115
ohne LSAMischverkehr0 vs. 19 (Gehweg)*2735 KPA13
RVA86890 KPA 
RVA mit Rate83 – 85801 – 867 KPA54 – 56
Linksabbieger
mit LSAMischverkehr28 + 9 (Gehweg)**609 KPA28
RVA91775 KPA55
ohne LSAMischverkehr31 + 10 (Gehweg)**2735 KPA22 – 23 – 24
RVA47890 KPA 
RVA mit Rate43736 KPA19 – 20 – 22

RVA“ steht für Radverkehrsanlage, hier Bordsteinradweg oder Radfahrstreifen.
KPA“ steht für Knotenpunktarm, also eine an eine Kreuzung anschließende Straßeneinmündung bzw. Straßenabgang,
samt gegebenenfalls querender Fahrradfurt.
Gehweg“ steht hier nicht für Unfälle auf dem Gehweg,
sondern für Unfälle von Radlern, die – aus Angst vor dem Fahren im Mischverkehr – auf dem Gehweg geradelt sind
und von da aus unvermittelt die abzweigende oder kreuzende Fahrbahn überquert haben.
Publizierte Warnungen vor Straßen „wo Radwege fehlen“ können zu solchem Fehlverhalten verleiten.


* von mir hochgerechnet aus mikroskopischer Analyse mit 14 der 27 Unfälle mit LSA und 5 der 19 Unfälle ohne LSA 
** von mir hochgerechnet aus mikroskopischer Analyse mit 16 der 36 Unfälle mit LSA und 4 der 41 Unfälle ohne LSA

Bewertung:
An der geringen Rechenbasis der Unfallraten kranken nicht nur die Belege für solche der im Text gezogenen Schlussfolgerungen,
denen es (nach meiner Ansicht) an Plausibilität mangelt.
Es krankt daran auch die Verwendbarkeit der Arbeit als Beleg für solche Schlussfolgerungen, über die eigentlich in Fachkreisen Konsens besteht.
Das betrifft sowohl den Vergleich von Mischverkehr und Separation insgesamt,
als auch den zwischen verschieden Gestaltungen der Radverkehrsanalgen.
Die Anzahlen der gleichartigen Knotenpunkte alleine geben nur einen groben Anhalt, 
denn insbesondere bei den unsignalisierten Knoten ohne Radverkehrsanlage hat ein großer Teil
ja nur ein minimales Verkehrsaufkommen an Radlern wie auch an abbiegenden Autos.

Layout der besagten Tabellen in UdV Fb 21:
Die Anzahlen der als potenzielle Unfallorte infrage kommenden Knotenpunktarme
stehen in den Tabellen 12 und 13 und in Anhang D in den letzten Spalten,
irreführenderweise unter der Gruppenüberschrift "Unfall(kosten)quoten". 

Erklärungen zur eigenen Tabelle:
Hier als „potenzielle Unfallorte“ bezeichnet ist die Gesamtheit jeweils gleichartig gestalteter Knotenpunktarme,
an denen sich entweder ein oder mehrere derartige Unfälle enztweder tatsächlich ereignet haben,
oder auch ereignen hätte können, aber nicht ereignet haben.
Die Zeilen "RVA mit Rate" ergeben sich dadurch, dass bei sehr geringen Fallzahlen keine Unfallraten berechnet wurden.
Von meinen eigenen Hochrechnungen ist die für Knoten ohne LSA bei den Rechtsabbiegerunfällen etwas mutig, die bei den Linksabbiegerunfällen ziemlich mutig.
Es ist aber ein Unterschied, anzunehmen, dass etwas sich in dem nicht untersuchbaren Teil des Kollektivs sich ähnlich verhalten hat wie in dem untersuchten, 
oder Teile des Kollektivs auszublenden, von denen man bei einem Parameter weiß, in welcher Richtung er sich dort anders verhalten hat, als im untersuchten,
so dass durch das Ausblenden einige Vergleichsaussagen ins Gegenteil verkehrt werden können.


MÖGLICHE UNBERÜCKSICHTIGTE UNTERSCHIEDE ZWISCHEN DEN CLUSTERN

Unterschiede in den LSA-Schaltungen werden nur summarisch erwähnt:

S. 81
"An 60 der 80 KPA mit Rechtsabbiegeunfällen Ab-Rf waren die Rechtsabbieger
bei der VOB stets gemeinsam mit den Radfahrern freigegeben, …"


S. 82
"28 der 39 KPA mit Linksabbiegeunfällen Ab-Rf verfü-
gen über keine signaltechnische Sicherung der Links-
abbieger (72 %), zeitweise gesichert geführte Linksab-
bieger fanden sich an zwei KPA (5 %)
und an neun KPA waren die linksabbiegenden Fahrzeuge
zum Zeitpunkt der VOB vollständig signaltechnisch gesichert geführt. "


Weiter unten wird noch erwähnt, dass 9 Unfälle durch Rotfahrten von Radlern verursacht wurden.

Wie sich getrennte vs. gleichzeitige Grünphasen für den jeweiligen Abbiegevorgang der KFZ und für geradeaus fahrende Radler
auf die nach der Linienführung des Radverkehrs gebildeten Cluster verteilen,
konnte ich auch bei mehrfacher Durchsicht keiner Stelle der Arbeit entnehmen.

Das gleiche gilt für vorhandene oder nicht vorhandene Abbieger"spuren",
die bekanntlich zwar eine getrennte Signalisierung erleichtern,
aber auch bei zeitgleichen Grünphasen zu finden sind.
Linksabbieger können allerdings vom Gegenverkehr einschließlich entgegenkommenden Radverkehr
auch dadurch zeitlich getrennt werden, dass an einer Kreuzung
die Grünphasen der beiden Fahrtrichtungen einer Straße insgesamt nacheinander getimed [gətaimt] sind.

BERÜCKSICHTIGUNG DER POTENZIELLEN UNFALLORTE

Anzahl:
Die Angabe gleicher Anzahlen potenzieller Unfallorte für Rechtsabbiegerunfälle und Linksabbiegerunfälle
weckt Zweifel an der Genauigkeit der Betrachtung,
denn wegen Einbahnstraßen und Richtungsfahrbahnen gibt es Stellen,
wo mit einem Kraftfahrzeug nur nach rechts abgebogen werden kann und wo nur nach links.
Damit sind auch Unterschiede zwischen den Anzahlen dieser Stellen zu erwarten.

Bedarf und Möglichkeit einer näheren Untersuchung:
An sämtlichen potenziellen Unfallstellen das Verkehrsaufkommen an abbiegenden KFZ und geradeaus fahrenden Radlern zu zählen,
würde sicherlich den Personal-, Zeit- und Kostenrahmen derartiger verkehrswissenschaftlicher Untersuchungen sprengen.

Ein Kompromiss besteht darin,
nur Knoten (mit und ohne Unfall) hinsichtlich des Verkehrsaufkommens untersuchen,
bei denen mindestens eine Straße eine Hauptstraße ist.

Eine weitere Möglichkeit besteht darin,
durch eine Klassierung der Knoten nach dem Netzrang der an ihnen verknüpften Straßen
Unterschiede im Verkehrsaufkommen zu berücksichtigen,
ohne an jeder Stelle eine Zählung vorzunehmen.
Zur Plausibilitätskontrolle wären Stadtpläne der ausgewerteten Städte
mit Darstellung der Netzbedeutung der Straßen und Wege beizufügen,
beispielsweise in Form einer Nachbearbeitung und speziellen Renderung von Openstreetmap.
In einem zweiten Schritt ließe sich daraus in transparenter Weise eine möglichst ergebnisneutrale Auswahl an Knoten treffen,
an denen dann tatsächlich Verkehrszählungen durchzuführen wären.
Das sollten wesentlich mehr sein, als die in der Studie gemessenen, aber doch unter tausend.
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EINFACHES ZAHLENBEISPIEL ZUR ERLÄUTERUNG DES METHODISCHEN FEHLERS

15 Knotenarme, zufälligerweise alle mit 5.000 DTV
(hier Wurzel aus dem Produkt von Autoaufkommen und Fahrradaufkommen)
sind nach Schema A gestaltet,
30 Knotenarme, zufälligerweise alle mit 3.500 DTV nach Schema B.

Von den 15 Knotenarmen mit Gestaltung A hatten innerhalb von zwei Jahren 5 jeweils 3 Unfälle, 5 jeweils einen und fünf keinen.
Von den 30 Knotenarmen mit Gestaltung B hatten innerhalb dieser zwei Jahre ebenfalls 5 jeweils 3 Unfälle und 5 jeweils einen, aber 15 gar keinen.

Unfallrate für die 10 tatsächlichen Unfallorte der Gestaltung A:
20 Unfälle / (5000 DTV x 10 Orte x 730 Tage)
= 20 Unfälle : 36.500.000 Verkehrsbewegungen
= 0,548 Unfälle pro Mio. Verkehrsbewegungen

Unfallrate für die 10 tatsächlichen Unfallorte der Gestaltung B:
20 Unfälle / (3500 DTV x 10 Orte x 730 Tage)
= 20 Unfälle : 25.550.000 Verkehrsbewegungen
= 0,783 Unfälle pro Mio. Verkehrsbewegungen

Bei Beschränkung der Berechnung der Unfallraten auf die tatsächlichen Unfallorte
wird für die Gestaltung B mit weniger Verkehr an den Unfallorten das höhere Risiko errechnet.

Unfallrate für die 15 potenziellen Unfallorte der Gestaltung A:
20 Unfälle / (5000 DTV x 15 Orte x 730 Tage)
= 20 Unfälle : 54.750.000 Verkehrsbewegungen
= 0,365 Unfälle pro Mio. Verkehrsbewegungen

Unfallrate für die 30 potenziellen Unfallorte der Gestaltung B:
20 Unfälle / (3500 DTV x 30 Orte x 730 Tage)
= 20 Unfälle : 76.650.000 Verkehrsbewegungen
= 0,261 Unfälle pro Mio. Verkehrsbewegungen

Bei Bezug der Unfallzahlen auf die Verkehrsmengen aller jeweils gleichartig gestalteten potenziellen Unfallorte
entpuppt sich das Unfallrisiko von Gestaltung B als geringer,
wegen der größeren Anzahl tatsächlich unfallfrei gebliebener Orte und deren Verkehrsaufkommen.
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NEBENBEMERKUNG ZUR TERMINOLOGIE

Abbiegeunfall oder Abbiegerunfall

Biegt ein PKW oder LKW ab und fährt dabei einen geradeaus fahrenden Radfahrer um,
so ist das für den Autofahrer ein Unfall beim Abbeiegen, also ein Abbiegeunfall.
Für den Radler ist es ein Unfall mit einem Abbieger, also ein Abbiegerunfall.
Biegt jemand auf dem Fahrrad unvorsichtig nach links ab und wird dabei von einem geradeaus fahrenden KFZ erfasst,
so ist das für den Autofahrer ein Unfall mit einem Abbieger, also ein Abbiegerunfall.
Und für den Radfahrer ist es ein Unfall beim Abbiegen, also ein Abbiegeunfall.


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